»Vom Ende der Gewissheiten«

Zeitenwende, Epochenbruch, Dauerkrise: Worüber ich heute eigentlich einen Artikel schreiben müsste

 

In der Berliner Tageszeitung taz gibt es (oder gab es zumindest früher) die Rubrik »was fehlt«. Darin wurde kurz und knapp aufgelistet, zu welchen Themen eigentlich eine Berichterstattung nötig oder wichtig wäre. Aber aus irgendwelchen Gründen hatten es diese Themen an jenem Tag eben doch nicht ins Blatt geschafft.

 

Mehrfach mussten wir in der redaktionellen Vorbereitung des Magazins E der Berliner Stiftungswoche an diese teils launige, teils ernste Rubrik der taz denken. Denn auch in unserem Magazin fehlt einiges an Berichterstattung, das nötig und wichtig wäre. Eigentlich war die Planung dieses digitalen Mediums bis Mitte Februar 2022 abgeschlossen. Viele Stiftungen hatten signalisiert, einen Beitrag zu schicken und etliche Interviewtermine waren vereinbart. Die ersten Seiten waren schon längst im Layout aufgebaut.

Dann kam der 24. Februar 2022. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben sich unsere Zeitläufte so grundlegend geändert, dass erst nach einer Phase der Fassungslosigkeit das mühsame Zurechtfinden in einer neuen Realität stattfinden musste. Der Bundeskanzler sprach im Bundestag von einer Zeitenwende. Andere haben den Begriff des Epochenbruchs verwendet. Von einer Dauerkrise als neuem Normalzustand haben wieder andere gesprochen – und dies auch mit Blick auf zwei Jahre mit einer Pandemie, die noch längst nicht vorüber ist.

Die einzige Gewissheit ist, dass wir das Ende unserer Gewissheiten erlebt haben. Über all das müssten wir eigentlich in diesem Magazin berichten. Vom massiven Angriff auf die Souveränität eines Landes mitten in Europa, auf die Menschen und ihre demokratischen Institutionen – und generell auf die freie und offene Gesellschaft als Modell des Zusammenlebens, das von autoritären Regimen zum Feind erklärt worden ist. Das ist schlichtweg imperialer Revanchismus auf der Basis lügenhafter Propaganda und eindeutiger Geschichtsklitterung.

Wird der 24. Februar 2022 als der Tag in die Geschichte eingehen, der sich anfühlt, als würde der 9. November 1989 andernorts rückwärts abgewickelt?

Darüber müsste man schreiben. Und darüber, dass wir hier im Warmen sitzen können und nebenan einen Krieg beobachten. Über das Leid von Millionen Menschen, die innerhalb von wenigen Tagen oder Stunden ihr Wohnungen verlassen mussten und nun Schutz in den westlichen Nachbarländern suchen; ebenso über den ungebrochenen Freiheitswillen und den mutigen Kampf derer, die zurückgeblieben sind. Man müsste gleichsam berichten über die vielen ehrenamtlichen und freiwilligen Helfer*innen, die oft spontan ihre eigentliche Arbeit unterbrochen haben und unmittelbar Hilfeleistungen für Menschen in der Ukraine und aus der Ukraine organisiert haben. Mit Hilfsgütertransporten Richtung Osten, mit konkreter Unterstützung in unseren Bahnhöfen und Stadtmissionen. Wir sollten über all die Verbände, Initiativen, NGOs und Stiftungen berichten, die hier unermüdlich arbeiten, um dem Schrecken des Krieges ein Zeichen der Menschlichkeit entgegenzusetzen.

Doch damit nicht genug. Wir müssten eigentlich in klugen Artikeln rückblickend analysieren, wo uns in der Vergangenheit lupenreine Fehleinschätzungen geblendet haben und welche Risiken und Bedrohungsszenarien nicht erkannt werden konnten oder wollten.

Und wir müssten mit ebenso klugen Kommentaren und Stellungnahmen nach vorne schauen, welche Möglichkeiten es gibt, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden und einen echten, tragfähigen Frieden herzustellen. Man müsste ausführliche Interviews führen – mit den Expert*innen zur humanitären Hilfe, zur neuen Tektonik in der Außen- und Sicherheitspolitik, zur Hybris einer atomaren Bedrohung, zu den energiepolitischen und ökonomischen Konsequenzen. Wen kann man fragen, ob es eigentlich die UN-Blauhelme noch gibt und warum sie bislang weder bei Lanz noch bei Maischberger oder Illner ein Thema waren?

Gibt es Thinktanks, NGOs oder Stiftungen, die sich bereits heute Gedanken machen, wie irgendwann ein »zweiter« KSZE-Prozess aussehen könnte, nachdem die Errungenschaften des ersten KSZE-Prozesses und der Schlussakte von 1975 gerade in der Ukraine mit Panzern niedergewalzt werden?

Außerdem fehlt ein Bericht über die Menschen, die auf die Straße gehen, um gegen diesen Krieg zu demonstrieren. In Berlin und Paris, in Helsinki und Riga ist dies jederzeit möglich. Doch welchen Mut es erfordert, in Moskau oder St. Petersburg an einer Demonstration teilzunehmen, vermag man sich kaum vorzustellen. Auch darüber und über die sonstigen Anstrengungen der massiv unterdrückten und kriminalisierten Zivilgesellschaft in Russland müssten wir eigentlich berichten.

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eine geopolitische Zäsur und eine Bedrohung weit über die Ukraine hinaus – nicht zuletzt durch den Verweis Russlands auf das eigene Atomwaffenarsenal. Die Bundesregierung reagiert mit einer Stärkung der Sicherheitsarchitektur, einer Erhöhung des Verteidigungsetats und einem Sondervermögen für die Bundeswehr.

Kehrt nun in die deutsche Politik und Gesellschaft eine Sprache zurück, die stärker auf militärischen Kategorien fußt? Oder droht sogar eine neue »Kriegsrhetorik«, wie dies der Soziologe Harald Welzer befürchtet? Auch darüber sollte man eine Debatte beginnen – innerhalb und außerhalb der Zivilgesellschaft. Oder kann dieser völkerrechtswidrige Krieg am Ende sogar eine Stärkung der multilateralen Zusammenarbeit bewirken? Welcher Interviewpartner könnte heute dazu bereits genügend Weitblick und Optimismus aufbringen?

Was ebenfalls fehlt sind Analysen, wie dieser Krieg bereits seit Jahren im digitalen Raum mit Cyberattacken aus Russland vorbereitet wurde – durch generalstabsmäßig agierende Hacker-Truppen und Troll-Werkstätten. Destabilisierung, Spaltung und Zersetzung – auch diesen Angriffen sehen sich die demokratischen Staaten und Gesellschaften seit Jahren ausgesetzt. Nicht zuletzt durch populistische und rechtsdemagogische Parteien sowie verschwörungsideologische Gruppierungen, die derzeit erstaunlich wortkarg agieren. Auch über diese Zusammenhänge würde es sich lohnen, ausführlich zu berichten und nachzuforschen, wie etwa Menschenrechtsorganisationen und Stiftungen, die in diesem Feld aktiv sind, in den Fokus autoritärer Propaganda geraten sind.

Es fehlt in diesem Magazin ebenso die Fortschreibung unserer Berichterstattung zum Klimawandel. Vergangenes Jahr hat die Stiftungswoche »Eine Frage des Klimas« in den Mittelpunkt gerückt. Sehen sich Klimaforscher*innen nun nach jahrzehntelangen Bemühungen um ihre ersten Erfolge gebracht, den Klimawandel bis dato ins öffentliche Bewusstsein gerückt zu haben?

Und es fehlt darüber hinaus ein Gespräch über Resilienz, vielleicht als Interview mit einer Psychologin, einer Pflegekraft, einem Lehrer oder einer Polizistin. Der Begriff Resilienz war der Ausgangspunkt beim Nachdenken über das Schwerpunktthema der diesjährigen Stiftungswoche. Natürlich im Licht der Corona-Pandemie, als der Begriff zurecht eine gewisse Konjunktur erlebt hatte – in den Medien, aber auch in der praktischen Arbeit vieler Stiftungen. Aus der Diskussion über psychische Widerstandskraft und die Fähigkeit, Herausforderungen zu meistern, wuchs dann nach zahlreichen Redaktionssitzungen die Formulierung »Ganz schön persönlich« – mit vielen weiteren Aspekten, zusätzlich zur Resilienz. Das alles ist in diesem Magazin nachzulesen und an den elf Tagen Stiftungswoche im April auch zu erleben.

In diesem Magazin fehlt so viel. In unseren Debatten fehlt so viel. Es scheint kaum möglich, allen Dimensionen und Implikationen dieses ungerechtfertigten Krieges gerecht zu werden. Im persönlichen Empfinden, im Alltag, in der Vorbereitung einer Stiftungswoche. Und dennoch soll es auch in diesem Jahr eine Stiftungswoche geben. Mal wieder im Krisenmodus. Mal wieder von der Aktualität gefordert. Und gewiss sind das alles nichtige Herausforderungen im Vergleich zu der Wucht, mit der unsere einstigen Gewissheiten weggewischt wurden.

 

Dieser Artikel wurde am 18. März 2022 verfasst.

 

ZUM AUTOR

STEFAN ENGELNIEDERHAMMER ist Mitglied der Geschäftsführung der Berliner Kommunikationsagentur Kaiserwetter. Seit 2013 ist er ehrenamtlich als Geschäftsführer der Berliner Stiftungswoche gGmbH tätig. Der Diplom-Politologe lehrt seit 1996 als Dozent an verschiedenen Berliner Hochschulen. Seit 2010 verantwortet er an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin im Masterstudiengang Public Administration das Modul »Zivilgesellschaftliche Verantwortungsteilung«.