Zwei Leben

Ein gemeinsamer Gottesdienst der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche Berlin und der Fürst Donnersmarck-Stiftung: Es zählt zu den besonderen Traditionen der Berliner Stiftungswoche, dass am Sonntag mitten in den elf Tagen der Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche unter das Motto der Berliner Stiftungswoche gestellt wird. Pfarrer Martin Germer hat dies auch 2022 mit dem Schwerpunktthema »Ganz schön persönlich« so gehalten und die Fürst Donnersmarck-Stiftung für eine Zusammenarbeit gewinnen können. So war an Quasimodogeniti, also dem Weißen Sonntag des Kirchenjahres am 24. April 2022, ein besonderer Vormittag zu erleben – mit einem anrührenden Gottesdienst, mit sehr persönlichen, teils heiteren, teils nachdenklichen Interviews und einer starken Predigt. Die Berliner Stiftungswoche bedankt sich für diese Kooperation und die Gelegenheit, den Predigttext von Pfarrer Martin Germer veröffentlichen zu dürfen.

 

Liebe Gemeinde!

Wenn man genau hinsieht, dann kann man sie an der Christusfigur sehen, die hier über uns schwebt: die „Nägelmale“, nach denen der Jünger Thomas eben gefragt hat. Die Verletzungen an den Händen und Füßen, die sie Jesus zugefügt haben, als er ans Kreuz gehängt wurde. Thomas möchte sie sehen, mit eigenen Augen. Er möchte sie sogar mit den eigenen Händen betasten können. Er will sichergehen, dass das keine Einbildung ist. Sonst kann er es nicht glauben, was ihm die anderen erzählen.

Und Jesus kommt noch einmal, extra für ihn. Er nimmt seine Zweifel ernst. Hier, meine durchbohrten Hände, du darfst sie betasten. Hier, die Wunde in meiner Seite, gib mir deine Hand, du darfst sie fühlen. Es ist ok, dass du Gewissheit suchst! Gewissheit für dich selbst. Und Gewissheit auch für alle die Menschen, die ebenso wie du nicht unbesehen glauben mögen. Dass man dich „Zwilling“ nennt, hat tiefen Sinn. Du hast viele Zwillinge unter den Menschen. Viele, denen es so gehen würde wie dir.

Doch dann scheint es, dass Thomas diese Vergewisserung nun gar nicht mehr braucht. Er hat es in einem tieferen Sinne begriffen: Der jetzt lebendig vor ihm steht, der ihnen allen gerade Frieden zugesprochen hat, das ist tatsächlich Jesus. Das ist der, der vor gut einer Woche gekreuzigt wurde. Das ist der, dem sie vorher gefolgt waren, so gut sie es konnten, und auf den sie alle ihre Hoffnungen gesetzt hatten. Auf eine noch kaum fassbare Weise ist er doch nicht im Tod geblieben, sondern er lebt!

Und er lebt gerade nicht so, als ob das alles gar nicht wahr wäre. Als ob sie sich das nur eingebildet hätten, als ob das nur ein schlimmer Traum gewesen wäre. Nein, er ist der am Kreuz Gestorbene. Eben ihn hat Gott in ein neues Leben auferweckt. Und im Glauben an ihn, an den Gekreuzigten und Auferstandenen, im Glauben an ihn sollen auch wir leben und sollen die Botschaft von ihm weitertragen. So sagt es uns diese Geschichte eine Woche nach Ostern.

Die Botschaft von der Vergebung der Sünden. Die Botschaft von dem Frieden, den Jesus in die Welt gebracht hat und den er in die Welt bringen möchte. Die Botschaft von dem großen Ja, das Gott uns Menschen zuspricht. Diese Botschaft ist nicht tot. Sie wurde nicht am Kreuz zunichte gemacht. Sie ist lebendig und will von uns aufgenommen und weitergegeben werden.

„Mein Herr und mein Gott!“, sagt Thomas, bis ins Innerste überwältigt.

„Zwei Leben“ heißt dieser Gottesdienst. Wir feiern ihn mit Menschen, für die irgendwann vor Jahren ein dramatisch anderes und tiefgreifend neues Leben begonnen hat. Für sie selbst und für ihre Angehörigen mit ihnen. Ausgesucht hat sich das keiner von ihnen. Ihr bisheriges Leben wurde schmerzlich durchkreuzt, so könnte man sagen. Durch einen Unfall oder durch einen schweren Schlaganfall. Durch einen Hirntumor oder durch eine neurologische Erkrankung. Einige von ihnen waren sogar dem Tod sehr nahe. Die Psalmworte, die wir vorhin gemeinsam gebetet haben, das könnten ganz unmittelbar ihre Worte sein: „Stricke des Todes hatten mich umfangen, des Totenreichs Schrecken hatten mich getroffen.“

Doch dann wurden sie gerettet und am Leben erhalten. Und so stellt sich nun die Frage, ob auch das Ihre Worte sein könnten: „Du hast meine Seele, mein Leben vom Tode errettet und mein Auge von den Tränen, meinen Fuß vom Gleiten. Ich werde wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebendigen“ Kann man das so sagen?

Ganz unmittelbar können das nur Sie selbst sagen, als direkt Betroffene und als Angehörige. Bin ich dabei zu „wandeln … im Lande der Lebendigen“? Ist dies jetzt genauso mein Leben, wie das frühere mein Leben war? Auch wenn ich jetzt vieles nicht mehr kann, was ich früher gekonnt habe. Auch wenn mir manches oder sogar vieles fehlt, woran ich früher Freude hatte. Aber ist nicht auch das jetzt ganz und gar mein Leben? Und ist nicht alles das, war mit jetzt Freude macht, auf seine Weise genauso kostbar? Kann ich nicht mindestens so stolz sein auf das, was ich jetzt und unter diesen Umständen schaffe, um meinen Alltag zu bewältigen, wie auf das, was mir früher gelungen ist? Dass ich jetzt in vielem auf Hilfe angewiesen bin, das nimmt meinem Leben nichts von seiner Würde. Und wie ich es jetzt schaffe, mit anderen zu kommunizieren, das sollen Menschen ohne meine Art von Behinderung mir erstmal nachmachen!

Die Geschichten, die Sie uns vorhin erzählt haben, ganz selbständig oder mit freundlicher Unterstützung, diese Geschichten erzählen genau davon: Leben „im Lande der Lebendigen“. Und genauso erzählen davon nebenan die Plakate in der Ausstellung mit dem, was darauf jeweils zu lesen ist. Leben „im Lande der Lebendigen“. Sie erzählen, was Ihnen Freude macht und wie Sie mit Ihrem Alltag zurechtkommen.

Und das ist so vielfältig wie das Leben von allen anderen auch. Da ist die eine gern oben auf der Dachterrasse und liest oder schaut über die Stadt und gießt zwischendurch die Blumen; denn da oben sagt ihr keiner, was sie zu tun hat. Und der andere findet es da oben langweilig und ist lieber im Backhaus und unter Leuten. Einer ist mit seinem E-Rolli überall in Berlin unterwegs, die andere freut sich darauf, dass ihr Lebensgefährte sie an der holländischen Nordseeküste auf dem „Rollfiets“ herumfahren wird. Einer schreibt: „Arbeiten kann ich ja leider nicht“, ein anderer freut sich, dass er demnächst in Rente gehen kann, ein dritter übt Gitarre mit Akkorden und „mit Liebe“.

Zwei haben sich in der Cafeteria des Fürst-Donnersmarck-Hauses kennengelernt, es hat „gefunkt“ zwischen ihnen, und nun sind sie seit knapp 16 Jahren verheiratet. Frage an uns, liebe Gemeinde, und Hand aufs Herz: Wer von uns würde ebenfalls sagen: Mein „Ehering“ ist mein Lieblingsobjekt? Während eine andere von ihrer besonderen Liebe zu den Bienen erzählt, aber zugleich auch das Glück hat, Familie zu haben und „Freunde… in der ganzen Stadt.“

Manches auf den Plakaten klingt so intensiv im Erleben, ja vielleicht sogar im Genießen, wie viele andere Menschen es im Stress oder in den ständigen Zerstreuungen ihres Lebens eher selten für sich erfahren mögen. Und auch Erinnerungen werden dort zum Leuchten gebracht. Erinnerungen aus dem früheren Leben. Aus der eigenen Kindheit und Jugend. Erinnerungen an Dinge, an denen früher das Herz hing und an denen es vielleicht immer noch hängt. Das Auto, mit dem man früher auf Tour ging, oder auch das Tourenrad. Der Fußball. Die Natur. Die Samba-Trompete. Der Computer als „Tor zur Welt“.

Was auf den Plakaten mit den überwiegend lächelnden Gesichtern kaum zu ahnen ist, das ist die andere, die mühsame Seite des Lebens. Wie anstrengend vieles auch ist. Wie schmerzlich es sein kann, in allen möglichen Dingen auf Hilfe angewiesen zu sein, die man früher selbst im Griff hatte. Wie bitter es sein kann, wenn Angehörige und Freunde es nicht fertigbringen, den Kontakt so zu halten, wie man es sich wünschen würde. Wie kränkend es ist, mit dem Rollstuhl oder mit seinen persönlichen Behinderungen immer wieder auf Barrieren zu stoßen, und wie zermürbend es sein kann, ständig um sein Recht kämpfen zu müssen. Nicht jeder kann für sich so einfach sagen, was auf einem Plakat zu lesen ist: „Aufgeben ist keine Option.“ Sicherlich gibt es immer wieder auch Momente, wo man zittert vor Schwäche oder vor Kränkung oder auch vor Zorn. Oder wo man sich einfach verkriechen möchte.

Umso schöner ist es dann, von Partnerschaften und von Familien zu lesen, in denen es auf unkomplizierte Weise gelingt, die Beziehung auch unter den Bedingungen dieses zweiten Lebens liebevoll lebendig zu halten! Ermutigend ist das für alle, die sich womöglich unter äußerlich viel einfacheren Umständen schon damit schwertun.

Ebenfalls nur zu ahnen ist, wie hart es doch sicherlich in den allermeisten Fällen war, sich auf dieses neue, dieses zweite Leben überhaupt einzulassen, und wie das oft seine ganz eigene Zeit brauchte und gute Hilfe. Eine erwähnt, wie schwer es war, wieder Zugang zu den eigenen Erinnerungen zu gewinnen und wieder sprechen zu lernen. Eine Anstrengung, die sicherlich viele von Ihnen durchmachen mussten oder mit der Sie auch weiter ständig zu kämpfen haben. Und ich könnte mir vorstellen, dass es bei nicht wenigen auch Momente gegeben hat, wo man das Gefühl hatte oder wo man es womöglich auch gesagt hat: Hättet ihr mich doch bloß sterben lassen!

Derartiges ist auf den Plakaten nicht zu lesen, und es gehört dort auch nicht hin. Das wäre ja sonst so, als wenn Sie in aller Öffentlichkeit sagen würden, was sogar Jesus nur ganz persönlich zu Thomas gesagt hat: Hier, lege deine Finger in meine Nägelmale und in meine Wunden! Nein, solche schmerzlichen Erinnerungen teilt man nur mit ganz vertrauten Menschen und auch nur dann, wenn einem danach ums Herz ist.

Aber wir können es uns alle auch so vorstellen und brauchen dazu nicht einmal übermäßig viel Fantasie. Und wenn wir dabei jetzt denken: Also, ob ich selbst das überhaupt könnte, so ganz neu zu leben beginnen? Dann haben wir mit dieser Frage völlig Recht. Auch Sie, die Sie uns heute etwas von Ihrem neuen, Ihrem zweiten Leben zeigen, auch Sie hätten wahrscheinlich früher, in Ihrem ersten Leben gesagt: Die innere Kraft dazu, die hätte ich nicht. Vielleicht hätten Sie sogar noch schroffer gesagt: Das wäre für mich kein Leben. So möchte ich niemals leben müssen.

Und nun tun Sie’s, weil es nun einmal so ist. Sie sind dabei manchmal vielleicht traurig oder sogar verzweifelt und hadern mit Ihrem Schicksal und hadern möglicherweise auch mit Gott. Und dann können Sie auch wieder in die Kamera lächeln und können ebenso den Mitmenschen in der direkten Begegnung freundlich anschauen; können die Dinge tun, die jetzt Ihrem Leben Inhalt und Sinn geben; können Spaß haben mit anderen zusammen oder auf ganz eigene Weise; können Pläne schmieden oder auch die Dinge einfach auf sich zukommen lassen.

Ich glaube nicht, dass Sie dies deshalb können, weil Sie irgendwie Supermänner und Superfrauen sind, Menschen mit ungewöhnlichen Kräften. Ich glaube, Sie können das deshalb, weil Gott Ihnen dazu die Kraft gibt.

Der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer hat Ende 1942 nach zehn Jahren Nazi-Herrschaft „Glaubenssätze über das Walten Gottes in der Geschichte“ aufgeschrieben. Die könnte man auch „Glaubenssätze für das wirkliche Leben“  nennen. Darin schreibt er: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. in solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“

Gott will uns die Kraft geben, die wir brauchen, wenn es darauf ankommt. Ich verstehe das, was Sie in den Interviews gesagt haben und was dann daraus auf die Plakate gekommen ist, als ermutigende Beispiele. Als Beispiele für Menschen, die ebenfalls mit Behinderungen oder mit anderweiten Beeinträchtigungen zurecht kommen müssen. Als Beispiele auch für Menschen, denen aus anderen Gründen gerade ihre bisherige Lebensplanung durchkreuzt wurde und die nun ihr Leben neu organisieren bzw. neu für sich einen Weg suchen müssen. Und auch für Menschen wie mich, die bislang vergleichsweise uneingeschränkt und unbehindert durchs Leben gehen können. Und die sich darum zum Beispiel von der Dankbarkeit auf einigen der Plakate eine besonders große Scheibe abschneiden dürfen.

„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“, sagt Jesus am Schluss seiner Begegnung mit Thomas und den anderen Jüngern und denkt dabei an uns alle, die wir als später Geborene keine Chance haben, Jesus direkt kennenzulernen und denen er auch als Auferstandener nicht direkt begegnen wird. Wir sehen ihn nicht. Oder nur so, wie ihn hier der Künstler sich vorgestellt hat: als Auferstehenden mit „Nägelmalen“. Wir kriegen keine direkten Beweise für das, was unser Glaube uns sagt und wozu er uns Mut machen will. Aber wir können doch auch auf das Gehörte hin und nach dem Beispiel, das uns andere Menschen vorleben, glauben und unser Vertrauen auf Gott setzen. Er hat Jesus aus dem Tod auferweckt. Er hat Ihnen ein zweites Leben gegeben. Und er will uns allen helfen, dass auch wir nach dem Vorbild von Jesus leben können, jetzt und in Ewigkeit. Danke für die ermutigenden Beispiele, die Sie uns dafür heute geben!

Amen.

 

Pfarrer Martin Germer: Quasimodogeniti, 24.4.2022, Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche Berlin, „Zwei Leben“ – Gottesdienst mit der Fürst Donnersmarck-Stiftung, Joh. 20,19-29 und Psalm 11